Realität & Traum

Ich glaube, dass der Sinn einer spirituellen Praxis darin liegt, die duale Realität des menschlichen Lebens kunstvoll zu meistern. Ja, sich sogar in sie zu verlieben. Doch ich erlebe bei vielen Menschen, die spirituell praktizieren, eine ewige Flucht vor der Realität - denn nirgends sonst als in dem bunten, weiten Feld der New Age Szene kann man effektiv aus der Welt aussteigen, nur um sich dem Schmerz, den das Leben manchmal bringt, zu entziehen. 

Es ähnelt schon fast einer grotesken schwarzen Komödie, wie raffiniert und kunstvoll manche Menschen durch spirituelles Bypassing das Leben umgehen. Und sich dabei all zu gerne in die Rolle des Opfers katapultieren - um ja ihre starre, von Ego durchtränkte Position des sogenannten Lichtkriegers nicht zu verlassen. In großen Floskeln und plakativen Sprüchen wird Einheit gepredigt, doch wenn man tiefer blickt, erkennt man, dass diese Menschen in Trennung leben. Trennung von sich, Trennung vom Leben, Trennung von der Menschheit, Trennung von der Realität der Dinge. Sie konstruieren sich gekonnt eine Traumwelt, wo alles nahtlos ineinander übergeht - denn, alles was ihnen passiert wird in Gründe und Lektionen gepackt - man philosophiert und denkt, und denkt und denkt übers Leben nach. Und dabei ist man ständig laufend im Marathon der spirituellen Selbstoptimierung. Ohne jemals anzukommen. 

Ich glaube, dass das Ziel spiritueller Praxis tiefste Menschwerdung ist. 

Es ist der Moment, wenn der Nektar der menschlichen Erfahrung zu Gold wird - auch wenn es machmal sehr weh tut das Mensch Sein. Das spirituelle Flüchten aus der Realität ist zu einer eigenständigen sich selbst erfüllenden Praxis in der New Age Szene geworden. Mit immer exotischeren Methoden schnell alles zu transformieren, was uns schwach, verletzlich, traurig, schwer und so menschlich macht, damit wir nur weiterhin im glanzvollen Höhenflug auf einem Einhorn durch das Universum reiten können. Wir brauchen magische Begriffe, heilige Namen, Hexenröcke und Federn in den Ohren, um die Wunde unseres geringen Selbstwertes mit einer spirituellen Super Power Identität zu verdecken. Wir sind keine Menschinnen mehr, sondern Göttinnen. Das Ziel ist es, die Übermacht übers Leben zu erlangen - weil wenn wir endlich den Thron unserer inneren Königin besteigen, dann ja dann sind wir fertig hier. Erleuchtet. Super Göttinnen mit Super Kräften. Mit dem perfekten Konto, dem perfekten Körper, dem perfekten Leben. Was für ein Traum. Was für eine Illusion. Was für eine Vergeudung des menschlichen Potentials. 

Irgendwann war ich auch so. Ich dachte, Nives muss Super Woman werden, um ihr Dharma zu erfüllen. Alles war übergroß. Mein Selbstbild. Das Bild der Welt. Das Feindbild. Die Freude. Als auch der Schmerz. Ein Auf und Ab auf der Achterbahn des Lebens, saß ich weder links noch rechts, sondern fiel meistens direkt raus - aus dem Gefühl voll und ganz geborgen im Leben zu sein. Ich wollte weiter, größer, schneller. Und verlor dabei Bodenkontakt. Meine spirituellen Erfahrungen waren geprägt von Hochflügen in ferne Dimensionen. Die Rückkehr meistens ein Aufprall in der harten Realität des Mensch Seins. Und es tat so verdammt weh. Diese absolute Trennung vom Leben als Menschlein. 

Heute ist es anders. Ich praktiziere anders. Manchmal denke ich, was wäre gewesen, wenn ich früher zum Tantra gekommen wäre - in der Art, wie es seit drei Jahren mein Leben begleitet. Wäre mein Weg anders gewesen? Man sagt, blicke nie zurück und bereue nichts. Aber ich spüre, ich hätte mir vielleicht viele Umwege erspart - Umwege, die mich zu manchen Zeiten meines Lebens fast das Leben gekostet hätten. Das menschliche Sein besteht immer und immer wieder aus täglichen Entscheidungen, Und diese Entscheidungen gestalten dein Leben. Ein sehr reales Leben. Hier auf der Erde. 

Wenn mich mein Sohn heute fragen würde „Mama, wie geht das mit dem Leben?“ Was würde ich da wohl antworten? 

Mein Kind. Das Leben ist zwei in eins. Es gibt hier alles zu erfahren, was du erfahren willst. Und manchmal auch nicht willst. All diese Erfahrungen bringen dich mehr zu dir. Egal wie weh sie tun. Sie zeigen dir, wer du bist. Manchmal wirst du alles verstehen wollen, doch manchmal gibt es nichts zu verstehen. Es gibt nicht immer einen Grund dafür, wieso Dinge passieren. Die Kunst liegt darin, damit ok zu sein. Sei lieb zu dir selbst. Atme viel in dein Herz. Versuche das Leben zu genießen. Die Dinge zu sagen, die dir am Herzen liegen. Dem Ruf deiner inneren Stimme zu folgen, auch wenn du sie manchmal nicht gut hören kannst. Sag den Menschen, die du liebst, dass du sie liebst. Frage dich stets, was würde ich tun, wenn ich heute sterben würde. Wisse, deine Kraft und dein Wille tragen dich aus jeder Dunkelheit hervor. Die Welt schuldet dir nichts. Und die Geschichte von Gut und Böse ist nicht wahr.

Und eines noch mein Kind:

Verlieb dich in das Leben.
Suche mit all deinen Sinnen diese feinen Nuancen von Liebe, die überall zu finden sind. Und wenn sie dich berühren mein Kind, dann ist der Himmel ganz nah bei dir. Und du bist. Real. Hier. Als Mensch. Endlich. Zu Hause. 
Es ist alles hier - wenn du das Leben voll reinlässt.
Das Reale so wunderschön.
Der Traum keine Flucht mehr. Sondern ein Ankommen.
Im Leben.

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Manchmal bleiben Menschen einfach so hier

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Wenn das Herz berührt wird