Großmutter ruft

Man sagt, es wird spürbar, wenn eine Seele sich für den Austritt aus dem Körper vorbereitet. Es ist als wäre ein Teil des Menschen, der gehen wird, bereits in der Anderswelt - übergegangen. Die Sehnsucht nach dem Verlassen des Körpers ist groß, doch irgendwie aus irgendeinem Grund darf man erst dann den Planeten Erde verlassen, wenn Gott den letzten Ausatemzug vollzieht.

Meine Großmutter ist 96 Jahre alt. Fast ein ganzes Jahrhundert auf der Erde. Ein Körper, der vieles erlebt und durchlebt hat. Zweiter Weltkrieg inklusive. Das Verlieren von Allem und das Finden von etwas Glück in einem fremdem Land bei fremden Menschen.

Schon seit einigen Jahre höre ich sie sagen, das sie gehen will. Das das Alter eine Qual ist und sie betet jeden Tag zu Gott, das er sie zu sich nimmt.

Zu Weihnachten schrieb sie auf einen Zettel: Ich liebe meinen Sohn, meine Enkelin und meinen Urenkel. Ich bin dankbar, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter zu sein. Sie hat nun mit 96 beginnende Altersdemenz. Bald, wenn sie nicht stirbt, wird sie zu 100% ein Pflegefall sein. Und doch, weiß sie immer noch. Was als Essenz am Ende ihres Lebens übrig geblieben ist. Liebe.


Sie betet jeden Tag zu Gott, das sie sterben möge.
Doch, es scheint so.
Das wir es nicht selbst entscheiden.
Wann wir kommen und wann wir gehen.
Das Leben zeigt uns immer und immer wieder, das wir nur glauben, alles hier kontrollieren zu können, doch eigentlich haben wir rein gar nichts unter unserer Kontrolle. Vielmehr ist es so, dass das was wir am meisten kontrollieren wollen, sich jeglichem wollenden Willen entzieht. Sogar der Tod und wann er kommt - bleibt - ein Mysterium.

Meine Großmutter Emilia. 96 Jahre alt.
Ihr letzter Wunsch ist es, wieder in das Dorf zurückzukehren, wo sie geboren wurde.
Es ist so, als würden die Menschen, wenn sie sterben, wieder zu ihren Ahnen heimkommen wollen. Zu ihren Wurzeln. Dorthin, wo die Seele entschieden hat, für dieses Leben zu inkarnieren - egal, wie weit und wohin uns das Leben jemals führen wird. Wir kehren immer dorthin zurück, woher wir kommen. Zu diesem Land. Zu diesen Menschen. Zu diesen Wäldern. Und der Luft. Die unseren ersten und unseren letzten Atemzug nährt.

Wenn man selbst einmal ein gewisses Alter erreicht hat, ist es gewiss so: Das alle Menschen, mit denen du aufgewachsen bist, und die einen wichtigen Teil deines Lebens geprägt haben, langsam beginnen zu sterben. Je älter man wird, und je näher man sich selbst dem Tod annähert, desto häufiger und intensiver werden die Möglichkeiten dem Gevatter ins Auge zu blicken. Und zu lernen, wie sterben geht. In dem man zuerst zusieht, bei denen, die man liebt. Um den letzten Akt so dann selbst so würdevoll wie möglich zu vollziehen.

Meine Großmutter Emilia ist 96 Jahre hat.
Ich sehe ihren Kampf - von diesem Leben loslassen zu wollen und nicht zu können.
Weil da so viel Angst darüber ist, was mit jenen sein wird, die nach ihr kommen.
Manchmal da will man gehen, aber man kann nicht.
Weil das Leben oft schwerer wiegt, als der Tod.
Und das Loslassen von Leben eine Kunst ist, die man in dem Prozess des Sterbens vielleicht erst lernen muss.

Doch etwas in mir fühlt: Bald ist es soweit.
Und so wie sie in ihr Heimatdorf zurückkehren will.
Will ich zu ihr zurückkehren.

Mit ihr nochmal in all den Erinnerungen an das schwelgen, was ich von ihr gelernt habe: Die unglaubliche Liebe zum Kochen. Den tiefen Respekt vor der Natur. Von ihr habe ich gelernt, mit der Erde zu reden und ihrem Geflüster zu Lauschen.
Wie man blühende Blumengärten und fruchtbare Gemüsegärten anlegt und sich liebevoll um die Ernte dessen kümmert, was Mutter Erde gibt. Und das Kunst immer immer immer einen wichtiger Selbstausdruck der Seele ist. Sie bemalte leidenschaftlich Ostereier, bastelte Tiere aus Wolle und liebte es Puzzles zusammenzusetzen. Und es gab ihr so viel Freude.

Ihre wärmende istrianische Minestrone wird mich immer an zu Hause erinnern.
Und daran, das in den Sommerferien jemand auf mich wartete, wie ein warmes Kaminfeuer, wenn ich vom Schwimmen am Meer nach Hause kam. Ich glaub, im Leben eines Menschen gibt es immer eine Person (hoffentlich), die man vom Feeling her als Großmutter bezeichnet. Du weißt schon. Die Oma, die die besten Vanillekipferl bäckt, dir Geschichten von damals erzählt, die du nie ganz verstehst aber denen du aus irgendeinem Grund lauscht und die da ist, wenn es die Eltern nicht sein können. Die Oma, die ein Schmuckkästchen mit Perlenketten hat. Und Schwarz Weiß Bilder von ihr, als sie in den 1940ern jung war. Die Oma, deren Vintage Teile heute wieder modern sind. Und die immer gesagt hat, das jede Generation einen Weltkrieg miterleben wird. Weil das einfach so ist. Die Oma die zur heiligen Madonna betete und niemals aufgab - die Oma, die 96 Jahre alt ist.

Jeder Sommer meines Kinderlebens war Großmutterzeit - am Meer, in Istrien. Dort wo es auch im Winter nach Pinien und Meeressalz riecht. Und dort, wo mein Gefühl von “endlich zu Hause” lebendig wird.


Ich glaub, ich fühle.
Es ist bald soweit.
Großmutter ruft.
Sie will sich verabschieden.
Und ich auch.

Ohne ihre Geschichte, wäre meine nicht, das was sie ist.
Ist das Leben Schicksal?
Ohne ihr Gehen aus dem Land, wo sie geboren ist.
Wäre ich niemals in Wien gelandet.
Ist das Leben Schicksal?
Ich weiß es nicht.

Doch ich fühle.
Großmutter ruft.
Sie will sich verabschieden.
Und ich auch.

Manchmal frage ich mich. Vergessen die Menschen uns, wenn wir älter werden?
Hab ich sie vergessen? Als sie sich immer mehr aus dem Leben zurückgezogen hat?
Hab ich sie zu selten besucht im Altersheim, das 700km weit weg ist von mir?
Sie ist damals nach Österreich gekommen, und wieder gegangen.
Ich bin geblieben.
Gehört das Vergessen zum Leben dazu? Oder geht es darum, Erinnerungen für immer lebendig zu halten?

Können wir jemals wissen, worum es im Leben wirklich geht?

Großmutter ruft.
Und ich glaub, sie will sich noch verabschieden.
Ich komme.
Um es auch zu tun.
Und hier in diesem Moment, wenn der Tod ganz nah ist.
Wird das Leben und alles, was es ausmacht. So lebendig.

Ich höre dein Rufen Großmutter. Und ich komme.

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