Mutterkörper
Manchmal fürchtet man ihn - diesen Mutterkörper. In einer Gesellschaft, wo der Körper einer Frau nach der Schwangerschaft nicht mehr so begehrenswert ist, wie davor. Es scheint so, als gäbe es eine tief sitzende Angst vor allen reiferen weiblichen Archetypen - also all jenen, die nicht dem jungen, jungfräulichen Körper einer Frau entsprechen.
Im Laufe eines Lebens durchläuft der weibliche Körper sehr viele Wechsel. Von Menarche zur Fruchtbarkeit. Von prämenstruell zu nicht mehr fruchtbar. Von jung zu älter bis hin zur Menopause. Und fast unser ganzes Leben lang fürchten wir diese Zyklen - denn sie führen uns immer und immer wieder vor Augen - Leben ist Wandel, nichts bleibt ewig, alles ist vergänglich. Die weibliche Energie bringt immer wieder unterschiedliche Formen hervor - der weibliche Körper ist ständig im Wandel und unterliegt starken Schwankungen, die sichtbar werden. Körperlich, Emotional und Mental.
Und oft trauen wir uns nicht ganz hinzusehen.
Manchmal da blick ich auf meinen Körper. Er ist 45 Jahre alt.
Und ich hab Angst, dass er so wird wie der Körper meiner Mutter. Sie ist 75 Jahre alt.
Ich sehe ihren Körper in meinem und meinen in ihrem. Denn aus ihrem ist meiner gemacht. In ihrem alternden Körper sehe ich meine Zukunft - und frage mich öfter: Kann ich dem entrinnen, in dem ich es besser mache? Das mit dem Sport, mit der Ernährung, mit dem “auf mich schauen” durch Self Care Rituale? Dann kommt eine Stimme, die sagt: Vielleicht kannst du dem bis zu einem gewissen Grad entrinnen, aber dein Körper ist der Körper deiner Mutter. Und sie lebt in dir. Durch dich. Weiter. Wir tragen einander und doch sind wir nie ganz gleich.
Ich atme den Mutter Körper in mir.
Ich spüre die Last ihres Nackens.
Das jahrelange Festhalten von Schmerz, der wie hundert Steine wiegt. Ich fühle ihr Herz, das sich hinter einer Schutzmauer versteckt hat - weil die Erfahrung von Liebe zu weh getan hat. Manchmal frage ich mich, ob sie all den Druck, den sie trägt, selbst noch spürt, oder ob er zu einem Modus Vivendi geworden ist - der Schmerz. Man wird zu dem, was man jahrelang trägt. Man wird im Alter zu einem Abbild des eigenen Lebens.
Und dann erkenne ich: Ich muss keine Angst vor dem Mutterkörper in mir haben. Ich kann in meinem Körper atmen - und ihren Körper atmen. Ihn halten und ihn verstehen - in tiefem Mitgefühl. Ich muss keine Angst haben, so wie sie zu werden. Ich kann ihren Mutterkörper in meinem erlösen - und dadurch meine Form ganz neu und mit meiner ureigenen Energie beleben. Ich muss sie in mir nicht bekämpfen und all das, was an in ihrem Körper weh tut nicht fürchten. Ich kann all ihre Wunden, sichtbar und unsichtbar, durch meinen Körper lieben. In Mitgefühl. Und vielleicht für sie dadurch ein Stück weit mehr Heilung bringen.
Vielleicht werden wir an irgendeinem Punkt in unserem Leben, die Mütter unserer Mütter. Sie geben uns unseren Körper. Wir tragen ihren Körper weiter, oft lange nachdem sie gestorben sind.
Sie gehen voran. Wir folgen.
Sie sterben. Und wir gehen weiter.
Wir tragen die Form des Mutterkörpers.
In einer neuen Form weiter.
Und geben ihn an die, die nach uns kommen, weiter.
Und vielleicht erlösen wir die kollektive Angst vor der alternden Frau, die so tief in die Strukturen unserer Gesellschaft eingeprägt ist, in dem wir den alternden Mutterkörper in uns selbst beginnen zu lieben. Ihn voll reinlassen und ihn in Licht baden. Ihn nicht mehr fürchten, um dadurch dem Alter zu entkommen. Ihn nicht mehr jünger machen wollen, als er ist.
Heil werden.
Im Mutterkörper.
Zugang zur der Weisheit des Mutterkörpers finden.
In dem du ihn voll reinlässt.
Fusion. Einheit.
Denn wir alle kommen aus dem Mutterkörper.
Und kehren zu ihm zurück.