Über die Liebe zur Praxis
Es ist ganz eigenartig, wie nach so vielen Jahren spiritueller Praxis das Leben selbst zur Praxis wird. Und man ertappt sich dabei den Himmel zu fragen: War es immer so gedacht? Als Ziel von spiritueller Praxis? Falls es überhaupt ein Ziel darin gibt?
Früher in meinem Leben, war es immer wieder die Entscheidung zwischen Matte oder Alltag. In einem ewigen Auseinander Gerissen Sein zwischen Nives als Yogini und Nives als Mensch. Es gab über viele Jahrzehnte keine Berührungspunkte zwischen den beiden personas, außer vielleicht in meiner Arbeit als Yogalehrerin und Ayurveda Praktiziernde. Irgendwie war die Arbeit eine Brücke zwischen den Welten - doch Nives Yogini blieb in ihrer Praxis oft und gerne stets alleine. Eine einsame Wölfin, die auf der Suche nach sich selbst, wild und frei durch die Wälder streifte. Und fest daran glaubte, dass es für sie und ihre übermenschlichen Sehnsüchte keinen Platz auf dieser irdischen Welt gab.
Früher in meinem Leben, war es ein ewiges Auseinander Gerissen Sein zwischen hier und dort. Innen und Außen. Praxis und Welt. Alltag und Gott. Wie als wären all diese Ebenen meines Seins in Schubladen verpackt - unzugänglich, nicht ganz belebt, nicht voll lebendig. Nicht miteinander in Beziehung, sondern getrennt - jede für sich säuberlich verpackt in einer eigenen Lade - und darunter pures Chaos. Meine einzige mich wirklich treibende Sehnsucht lag darin verborgen, mich von dieser Welt wegzubeamen, denn ich nahm sie mit all ihren Herausforderungen als große Last war. Also eigentlich eine Anti - Sehnsucht, denn sie trieb mich stetig voran, das Mensch Sein zu verdammen. Für mich war das Leben hier über viele Jahre lang eine Bürde, von der ich hoffte, mich in der spirituellen Praxis zu befreien. So als wäre mein Leben etwas, das es zu transzendieren galt. Seele und Körper nahm ich nicht als eine Ganzheit war, sondern als zwei getrennte Entitäten und nicht selten lag ich deprimiert in meinem Bett, innerlich zerissen, sehnsuchtsvoll nicht hier sein zu wollen und leidend gefangen in einem Körper, der mir Grenzen zeigte und mich zwang hier zu bleiben.
Und dann kam Tantra. Ich weiß gar nicht mehr woher, wie und wann genau. Ich fühlte tief in mir, das bis zu diesem Zeitpunkt in all meinen spirituellen Praktiken, die ich jemals vollzogen hatte, etwas gefehlt hatte. Es war nie ganz. Das Bild. Es landete nie ganz in meinem Körper. Immer wieder hatte ich das Gefühl, das ich vergebens suchte und niemals ganz fand. Doch mit Tantra änderte sich alles. Und langsam aber sicher, fand ich meinen Weg nach Hause ins Leben zurück. Voll spirituell, aber voll da. Im Mensch Sein.
Der Grundgedanke des tantrischen Weges ist nondualer Natur.
Ich begann zu atmen - tiefer als ich jemals gedacht hatte.
Ich begann zu sehen - die Nives, die Mensch ist. Und jene, die Seele ist.
Ich begann zu verstehen - all jene Momente, als ich mich durch spirituelle Praxis direkt in ein spirituelles Bypassing begab und dadurch am Leben vorbei lebte.
Ich begann mich jeden Tag mehr auf alles in meinem Leben einzulassen. Quasi jeden Moment, jedes Gefühl, jede Situation zu inhalieren und voll darin einzusinken. Keinen Unterschied mehr zu machen zwischen banal und heilig, besonders wertvoll und belanglos leer. Ich hörte auf nach den Adrenalinkicks in spirituellen Erfahrungen zu suchen und mein Leben in Warteposition auf heilige Momente zu verbringen. Ich begann mein ganzes Leben als Praxis zu sehen - jeden Moment davon. Und ich begann mich jeden Tag mehr in mein Leben zu verlieben. Anstatt weiterzulaufen und davon zu laufen, begann ich stehen zu bleiben. In der tiefen (neuen) Sehnsucht, die erwacht war und mir zuflüsterte, das ich jeden Moment dieses Lebens als kostbar empfinden wollte. Mit Tantra begann der Weg meiner zutiefst menschlichen Spiritualität und das Bedürfnis aus dem Körper wegzudriften wurde immer weniger, bis es ganz verschwand, und ich Lust und Freude daran verspürte, voll hier zu sein.
Tantra brachte mir so viel Klarheit des Geistes, so als würden die Nebel vor meinen Augen verschwinden. Und ich sah:
Mein Leben. Als Praxis. Jeden Tag davon atmend. Die schwierigen Tage als tiefe Felder von Auflösung. Die guten als Kraftquellen von Kreativität. Jeder Tag ein mutiger Akt von Hingabe an Leben. Mit all dem, was in mir bewegt wird. Angst, Hoffnung, Sehnsucht, Schmerz, Freude, Leid, Kampf, Scheitern, Mut, Lust, Trauer.
Nondual. Alles drin. Im Etikett Leben.
Die Praxis auf der Matte ist zur Infusion für das Leben geworden. Sie ist kein Überlebenstool mehr, sondern die Kraft, die mein Leben nährt. Die 30-minütige Meditation nur mehr eine Einladung, um die 23,5h des restlichen Tages mehr bei mir zu sein. Mich in Mitte zu fühlen, und das Leben voll reinzulassen. Nicht mehr wegzudriften vor dem Nicht Schönen, Schwierigen, Anstregendem. Sondern all das als Formen von Energie zu empfangen - katharsische Erfahrungen von Liebe. Mitten durch das Leben.