Lilien der Weiblichkeit
Der Kelch der Lilien, aus dem dieser süße betörende Duft strömt. Sich in meinem Wohnzimmer ausbreitet und mich manchmal erreicht und erinnert: Da sind Lilien im Wohnzimmer.
Ich setze mich an diesem verregneten Tag mit ihnen auf den Boden. Ein Tag, an dem ich schon morgens einen Konflikt mit meinem Sohn hatte. Ein Konflikt, der aus der Überforderung der Mutterrolle entstanden ist, aus dem “keine Grenzen setzen können”, keinen Raum für mich haben. Ein klassischer Abnabelungskonflikt, der je älter die Kinder werden, umso dringlicher wird. Denn irgendwann will man selbst der Babysitterinnen Rolle entwachsen.
Als ich mich mit den Lilien auf den Boden setze, fühle ich mich so weit weg von weiblich sein, genährt sein, Schönheit und Fülle. Obwohl diese Blumen genau das für mich verkörpern. In ihrer aufgeblühten Pracht sind sie voll von Schönheit, Liebe und Edelmut. Sie zeigen alles, was sie haben in diesem Kelch aus sechs Blütenblättern, und wenn man ganz nah an ihnen riecht, dann legt sich ihr dunkelroter Blütenstaub auf die Nase und macht sie kurkumagelb. Ihre langen Blütenstaubstengel sind wahrhscheinlich deswegen so lang, weil sie Bienen für die Befruchtung anziehen sollen, damit das Leben weitergeht. Befruchtet wird. Weiblichkeitskraft. Pur.
Ich sitze mit den Lilien auf meinem Holzboden.
Sie sind dort. Und ich bin hier.
Wie gerne würde ich ihre Schönheit ganz in mich reinlassen, mich von ihnen berühren lassen. Doch heute, da ist so viel Trennung in mir. Ich bin frustriert, müde, rede mir ein, dass das alles hier so anstrengend ist, denke über meinen Sohn nach und es tut mir leid, dass er im Streit in die Schule gegangen ist. Egal, wie du es als Mama machst, irgendwie ist es nie ganz richtig. Irgendwie scheitert eine Mutter immer an ihrem Perfektionsanspruch, der vielleicht ein konstruiertes gesellschaftliches Muster ist, das unbewusst von Generation zu Generation weitergetragen wird. Man will das Beste für das eigene Kind, und in diesem Verlangen wird einem immer wieder bewusst, dass man das Unperfekte des Lebens dabei voll umarmen muss. Weil man instinktiv spürt, dass es das Beste nicht gibt. Und damit muss man Frieden finden.
Ich frage mich: Machen sich die Lilien, die in der weißen Wiener Emaille Vase vor mir stehen, Gedanken darüber, wie schön sie sind? Wie sie auf mich wirken? Ob sie die perfektesten Blumen auf der Welt sind? Wie sie riechen und ob sie mich betören?
Wahrscheinlich nicht.
Weil die Lilien auf meinem Holzboden.
Einfach sind.
Sie sind, das was sie sind.
In der Seins Form, die Gott für sie vorhergesehen hat.
Sie wollen nichts anderes sein. Als das, was sie sind.
Und es ist das Wunderschönste, das ich heute sehe.
Hier auf meinem Holzboden in meinem Wohnzimmer.
Sie haben keinen Anspruch. Und auch kein Ziel.
Sie denken nicht darüber nach, was als nächstes kommt oder was war.
Sie wissen jetzt noch nicht, dass sie in ein paar Tagen verwelken werden.
Und es ist ihnen auch egal.
Denn sie geben sich ganz ohne Anstrengung und Widerstand dem natürlichen Zyklus des Lebens hin. Von Werden und Vergehen.
Das Einzige, was scheinbar für sie zählt, ist ihre Präsenz.
Und das ist ihr Dharma.
Ihre Aufgabe.
Mich heute, hier auf diesem Holzboden, ganz zu berühren.
Und mich zu erinnern.
Ich mache die Lilien zu meiner spirituellen Praxis.
So wie alles im Alltag zu einer Praxis werden kann, die uns aus Trennung in Einheit zurückführt. Uns erinnert, das hinter all den Problemen, die wir haben, immer Schönheit ist, immer Avalon ist, immer das Gefühl von zu Hause entstehen kann.
Über die Tore aller meiner Sinne.
Lass ich die Lilien voll rein.
In mich.
Ich trete in die Welt der Lilien ein.
Es ist ein Königreich.
Ein Kelch im Herzen der Königin.
Ich beginne die Lilien nicht mehr als das zu sehen, was sie aus meiner Objektivität sind. Sondern als das, was sie sind, wenn wir es wagen, mit dem einen Auge zu sehen.
Und in diesem Moment trete ich durch die somatische Erfahrung meines Körpers in das Königinnenreich der Lilie ein.
Sie ist eine Königin.
Ihr Kelch ein Palast.
Ihr Name Lilie.
Sie ist einladend, und sie hütet in Würde gleichzeitig ihre Grenzen.
Denn sie beschützt, das, was sie ist, ihre göttliche Essenz.
Ich stelle mich ganz hinein.
In den Kelch der Lilie.
Und lass mich ganz berühren.
Ich merke, dass jegliche Angst meines Verstandes, sie sofort aus meiner somatischen Erfahrung im Körper verschwinden lässt.
Denn man kann sie nicht durch mentale Konzepte greifen und in verstandesmäßige Kategorien zwängen.
Sie offenbart sich durch Hingabe.
Und ich spüre, wie ich, wenn ich es mir zutraue mich zu trauen.
Ganz eins werde mit ihr.
Die verletzte Königinnenkraft in mir, langsam zu heilen beginnt.
Ich brauch noch Zeit Lilie.
Und sie sagt nichts. Sondern ist.
Und gibt mir den Raum, heute, an diesem verregneten Tag, um zu heilen.
Der Wiener Salon wartet nicht, bis einen die Muse küsst.
Er lädt ein, das zu tun, was zu tun ist.
Weil erst der eine Schritt, den nächsten offenbart.
Und so weben wir den Teppich unseres Lebens.
Täglich.
Heute. An diesem verregneten Tag.
Darf die Königinnenkraft in mir heilen.
Zu tun, was zu tun ist.
Das ist Leben.
Das ist Dharma.
Und das reicht.
Mehr wird es nicht.