Meine UrgrossMutter: Ein Stern
Es hat mich fast mein ganzes Leben lang Zeit gekostet, das Puzzle der Weiblichkeit in mir zusammen zu setzen. Um zu erkennen, welches Blut durch meine Adern fliesst und die Stimmen meiner Ahninnen endlich ganz in mich rein zulassen.
Ich schreibe diese Zeilen zu Papier, als Bilder, die vor meinem inneren Auge auftauchen.
Erster Akt:
Frauen. Stark. Entschlossen.
Irgendwie ist ihnen nichts anderes übrig geblieben, als weiterzumachen. Nach dem Krieg, nach dem Verlassen werden, nach dem in ferne Länder mit ungewisser Zukunft flüchten. Irgendwie ist ihnen nichts anderes übrig geblieben, als Fremden in fremden Ländern zu vertrauen und zu hoffen. Hoffen darauf, das es besser wird. Das es morgen etwas zu Essen gibt. Das sie ihre Kinder beschützen können. Auch ohne Mann. Hoffen darauf, dass die Qual des Lebens nicht all zu erbarmungslos wird - denn, wenn das Glück dich verlässt, dann bleibt nur mehr die Hoffnung.
Zweiter Akt:
„Mir wird nichts geschenkt - das ist der Satz, der ständig in eindringlicher Vehemenz durch meinen Körper fliesst. Ich habe begonnen daran zu glauben. Er ist zu einem Mantra in meinem System geworden.
Dritter Akt:
in tiefes Misstrauen gegenüber dem Männlichen macht sich in meinem Körper breit. Ein Nicht Vertrauen. Der Satz: Ich kann mich auf den Mann nicht verlassen, denn er wird mich verlassen. Ich muss für mich selbst kämpfen, denn niemand wird es für mich tun. Ich stehe an der Front - Kriegerin in der Rüstung von Jean D’Arc. Es gibt ihn, diesen Mann, der mir Zuflucht und Geborgenheit schenkt, aber er ist nicht hier. Er ist irgendwo im Himmel, dann, wenn ich eines Tages gestorben bin. Er ist soweit weg, dass ich Gott verfluche. Und ihn frage: Wieso hälst du mich am Leben?
Vierter Akt:
Alles, was ich tue, tue ich für die Frauen in meinem Leben. Für die Töchter, meiner Töchter. Ich verstecke die Gaben, die ich habe in tiefen Gräben, damit sie niemand findet. Wir müssen stark sein, aber wir dürfen uns nicht zeigen. Es ist zu gefährlich Liebes. Ich hab hier etwas für dich - das du nehmen kannst, damit es dir das Leben erleichtert, aber die Zukunft ist ungewiss und du musst, das was du hast, verstecken. Verstecken. Verstecken. Denn sie dürfen uns nicht finden - diese Männer mit ihren Waffen - und da ist so viel Angst davor, vergewaltigt zu werden. Mann ist Krieg. Mann ist Gewalt. Mann ist Enttäuschung. Mann ist Verrat. Die Söhne sind im Krieg gestorben, die Väter sind nicht da. Die Töchter haben keine Zukunft. Ohne Mann an ihrer Seite - es quält mich der Gedanke, dass meine Töchter nirgends hin können, sie sind Gefangene ihres Schicksals. Sie haben keine Rechte, kein Anrecht auf Leben. Sie sind Sklavinnen einer Welt, die nichts Gutes will für sie.
Es schaudert mein Körper.
Kälte all over.
Ich fühle meine Urgoßmütter.
Und ihre Angst vor dem Scheitern.
Ihre Angst um all die Töchter, die noch kommen werden.
Ihre Angst um mich.
Ich bin die einzige in unserer Familie, die einen Sohn geboren hat.
Wenn ich ihnen zuflüstere: Die Welt hat sich verändert Großmutter, es ist nicht mehr so wie es war. Es ist gar nicht mal so schlecht jetzt. Können sie es nicht glauben, so schwer wiegt die traumatische Erfahrung, das sogar ihre Seelen in der Illusion gefangen sind.
Also atme ich ein bisschen mit ihr, mit ihnen.
Von Herz zu Herz.
Pure Ahnenarbeit.
Wir geben uns die Hände.
Sie ein Geist.
Ich ein Mensch.
Ich spüre ihre ganze Angst davor, Frau zu sein. Die Qual und das Leid, das damit verbunden war. Ich nehme ihren Schmerz in meinem Körper auf und atme ihn zur Erde aus.
Ich atme.
Die Ausgestossene.
Die Vergewaltigte.
Die Traurige.
Die Wütende.
Die Hoffnungslose.
Die Erschlagene.
Das Opfer.
Ich atme. All meine Ahninnen. Und ihren Schmerz.
Ich gebe all dem Raum, in meinem Körperraum.
Bis sich alles wandelt - und ein Stern am Himmel erstrahlt.
Ich weiß, es ist meine Urgroßmutter.
Und sie flüstert leise: Ruf mein Licht, wenn du mich brauchst, Tochter.
Ich erhelle deinen Weg.
Ich schenke ihr eine Rose.
Und sie schenkt mir ein Lächeln.